Das kulturhistorische Prinzip
Das Hessische Landesmuseum in Kassel ist ein Beispiel für die Entstehung neuer Museumstypen im Zuge der Expansion des Museumspublikums im späteren 19. und frühen 20. Jahrhundert. Grundlegend für die Konzeption des Landesmuseums war das kulturhistorische Prinzip, welches sich typischerweise mit der Bewahrung regionaler Altertümer und Kunstgegenstände verband.
Die Entstehungsgeschichte des Hessischen Landesmuseums hat ihre Wurzeln in dem von Landgraf Friedrich II. 1779 gegründeten Museum Fridericianum. Die dort nach Kriterien des 18. Jahrhunderts zusammengestellten Sammlungsbestände der fürstlichen Kunstkammer wurden 1877 aufgrund von inzwischen etablierten wissenschaftlichen Ordnungssystemen aufgelöst. Die naturwissenschaftlichen Exponate bildeten den Grundstock eines neugeschaffenen Naturkundemuseums, nachantike Kunstgegenstände wanderten in das Erdgeschoss der gerade vollendeten Gemäldegalerie und eine nun eigenständige Antikensammlung verblieb im ursprünglichen Museumsgebäude.
Die dadurch herbeigeführte Zersplitterung der kunsthistorischen Sammlungen wurde jedoch bald als eine unbefriedigende Zwischenlösung betrachtet. 1906 beschloss die Stadt Kassel deshalb, ein neues Museum zu errichten. Der hierfür verantwortliche Museumsdirektor Johannes Boehlau plante, alle kunst- und kulturgeschichtlichen Bestände außer der Gemäldesammlung unter dem Leitbegriff der „Landesgeschichte“ zusammenzufassen und damit auf eine moderne Weise an die Tradition des Museum Fridericianum anzuknüpfen. 1910–1913 wurde das Hessische Landesmuseum unter der Leitung des Münchener Architekten Theodor Fischer erbaut.

Außenansicht des Hessischen Landesmuseums vom Wilhelmshöher Platz (heute Brüder-Grimm-Platz) mit Haupteingang unter dem Turm, Aufnahme 1913.
Das prominent im Stadtbild platzierte Museumsgebäude ist als Fünfflügelanlage um zwei Binnenhöfe konzipiert, eine Lösung, die sich für breitgefächerte Sammlungen im 19. Jahrhundert etabliert hatte. Als Abschluss des Gesamtbildes dient der weithin sichtbare, dreißig Meter hohe Turm mit dem Zugang zur Eingangshalle. Fischers Entwurf folgte seiner Architekturauffassung, im Rahmen eines von abstrahierten Stilzitaten geprägten Reform-Historismus die Spezifik der regionalen Architekturgeschichte zu berücksichtigen und erschien deshalb für das Vorhaben besonders geeignet.1 Verschiedene Details nehmen Bezug auf regionale historische Bauten. So griff Fischer etwa das Motiv des Turmabschlusses der Kasseler Martinskirche, eine achteckige Renaissance-Haube, die noch bis 1889 die Kirche geschmückt hatte, auf und wählte „altdeutsche” Breitfenster nach dem Vorbild der Spätrenaissance, die zugleich einen gleichmäßigen Lichteinfall in allen Räumen gewährleisteten.
![Grundriß des zweiten Ausstellungsgeschosses Mit Einträgen zu den Sammlungsbeständen ergänzter Grundriß des zweiten Ausstellungsgeschosses (aus: Johannes Boehlau: „Führer durch die historischen und Kunstsammlungen […] Hessisches Landesmuseum zu Cassel“, Marburg 1913).<br>Quelle: Boehlau, Johannes: Führer durch die historischen und Kunstsammlungen. Kgl. Museum Fridericianum. Hessisches Landesmuseum zu Cassel, Marburg 1913, Vorsatzblatt.](http://www.museumsgeschichte.uni-kassel.de/wordpress/wp-content/uploads/2013/07/07_Abb_2-300x242.jpg)
Mit Einträgen zu den Sammlungsbeständen ergänzter Grundriß des zweiten Ausstellungsgeschosses (aus: Johannes Boehlau: „Führer durch die historischen und Kunstsammlungen […] Hessisches Landesmuseum zu Cassel“, Marburg 1913).
Der Neubau des Museums ermöglichte es Boehlau, die bereits bestehenden und eigens für diesen Zweck neuangelegte oder stark ausgebaute Bestände, wie eine Sammlung mittelalterlicher Altäre, kurhessischer Volkskunde und regionaler Vor- und Frühgeschichte, nach dem kulturhistorischen Prinzip zu präsentieren. In chronologischer Folge durchlief der Besucher einen vorgegebenen Rundgang, der ihn von der Antikensammlung im Erdgeschoss über das Mittelalter und die Renaissance am Ende des zweiten Geschosses bis zu den jüngsten ausgestellten Möbeln des Biedermeier führte. Die als Geschichtslos angesehene Lebensweise des einfachen Volkes in der Vergangenheit, die u.a. eine ins Museum eingebaute bäuerliche Wohn- und Schlafstube veranschaulichte, nahm dagegen mit außereuropäischen und prähistorischen Exponaten das oberste Geschoss ein.

Die „Ehrenhalle“ des Hessischen Landesmuseums in der Ersteinrichtung durch Theodor Fischer und Johannes Boehlau, Aufnahme 1913.
Zudem beherbergte der zweite Stock die festlich geschmückte „Ehrenhalle” zur Würdigung der Landgrafen und der kurhessischen Ritterschaft als den wichtigsten Protagonisten regionaler Kulturförderung nach Einführung der Reformation. Die zentrale „Basilika” des Erdgeschosses, welche die Mittelachse des Gebäudes bildet und über zwei Stockwerke reicht, wurde für die antiken Skulpturen aus der Sammlung Friedrich II. als dem prestigeträchstigsten Bestand eingerichtet. Die abstrakte Gestaltung dieses monumentalen Raumes entsprach dem Reform-Historismus Fischers. Direkte Stilzitate, wie im traditionellen Historismus üblich, sind hier kaum zu finden. Statt dessen wurde auf assoziative Weise an antike Vorbilder erinnert.

Die „Basilika“, der Antikensaal des Hessischen Landesmuseums, in der Ersteinrichtung durch Theodor Fischer und Johannes Boehlau, Aufnahme 1913.
Im Landesmuseum wurden Kunstwerke, Gegenstände des Kunsthandwerks und des Alltagsgebrauchs gemeinsam präsentiert, solange sie aus derselben historischen Epoche stammten. Die in Kunstgewerbesammlungen übliche Aufteilung nach Materialgruppen wurde dagegen nur bei größeren Bestandsgruppen zeitgleicher Exponate, wie etwa beim Porzellan des 18. Jahrhunderts, verwendet.2 In ihrer Zusammenstellung sollten die Exponate Auskunft über die Lebensverhältnisse, Gestaltungsweisen und Überzeugungen vergangener Generationen geben. Man versuchte, eine historische Zustandsbeschreibung zu vermitteln, wobei ein regionaler Bezug im Vordergrund stand. In mehreren Räumen wurde der Funktionszusammenhang der Exponate veranschaulicht, etwa die liturgische Verwendung von mittelalterlichen Altären in einem simulierten „Kirchenraum”. In den meisten Fällen richtete man jedoch bloß „Stilräume“ ein, in denen Möbel, Geräte oder Bilder aus derselben Epoche in einer unspezifischen Wohnraumanmutung präsentiert wurden.
Das Landesmuseum unterschied sich von kunsthistorischen Museen vor allem durch seinen konkreten Bezug zur Alltagswelt der Besucher, ohne dass diese über historische Bildungsvoraussetzungen verfügen mussten. Das Zielpublikum umfasste breite Bevölkerungskreise bis in die kleinbürgerlichen und proletarischen Unterschichten. Die Vermittlung von regionaler Identität war zur Zeit der Hochindustrialisierung ein wichtiger Beweggrund, dem auch eine politische Dimension zugrunde lag. Weil die unter sozialer Ungerechtigkeit leidende und zugleich durch die Migration in Industriezentren wie Kassel entwurzelte Arbeiterschaft ein hohes Potential für politische Aufstände darstellte, sollte der Zugang zu Bildung eine stabilisierende Wirkung in der unter Spannung stehenden Gesellschaft entfalten. Unter monarchischen Vorzeichen wurde ein gemeinsames Heimatbewusstsein und schließlich die Integration der Unterschichten in die bürgerliche Gesellschaft angestrebt.3
Die damaligen Veränderungen der Lebens- und Kulturräume führten zu Verunsicherungen und einem kulturellen Krisenbewusstsein. Man war besorgt um den Verfall traditioneller Werte und bemühte sich um den Erhalt und die Wertschätzung der eigenen Kultur und Geschichte. In kulturhistorischen Museen versuchte man daher, einen entsprechenden Wahrnehmungsrahmen für ältere Kunst zu schaffen. Das kulturhistorische Prinzip, das die historischen Zusammenhänge berücksichtigte, die Heimatgeschichte in den Vordergrund stellte und sich einem breiten Publikum öffnete, kam diesen Erwartungen entgegen.4
Tugce Konay, Svetlana Schukis, Nicole Thöne (mit Katarzyna Wiczkowska)
- Nerdinger, Winfried (Hg.): Theodor Fischer. Architekt und Städtebauer 1862–1938, Berlin 1988. ↩
- Mundt, Barbara: Über einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede von kunstgewerblichen und kulturgeschichtlichen Museen, in: Deneke, Bernward; Kahsnitz, Rainer (Hg.): Das kunst- und kulturgeschichtliche Museum im 19. Jahrhundert, München 1977, S. 143-151. ↩
- Wendland, Ulrike: Musealisierte Erinnerung an die „gute alte Zeit“. Beobachtungen zum Umgang städtischer Bürger mit ihrem kulturellen Erbe im 19. Jahrhundert, in: Joachimides, Alexis; Kuhrau, Sven (Hg.): Renaissance der Kulturgeschichte?, Dresden /Basel 2001, S. 20-32. ↩
- Joachimides, Alexis: Die Ambivalenz des Museums. Kulturpessimisten, Denkmalpfleger, Heimatschützer und die Reform der musealen Praxis um 1900, in: Joachimides; Kuhrau 2001, S. 88-108. ↩