Das „monumentale Museum“ des 19. Jahrhunderts

Die Gemäldegalerie in Kassel an der Straße „Schöne Aussicht“ am Rand der Karlsaue von Südosten, Aufnahme vor 1943.
Im 19. Jahrhundert wandelte sich das allgemeine Kunstverständnis in so grundlegender Weise, dass ein neuer Museumstyp entstand, der sich auch in Kassel im Bau der neuen Gemäldegalerie an der „Schönen Aussicht“ niederschlug – das „monumentale Museum“.1 Im Zuge der Akademisierung der Kunstgeschichte wurde historische Kunst nun neben ihrer ästhetischen Funktion auch zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Erforschung. Der geistesgeschichtliche Hintergrund des Historismus war eine wichtige Triebkraft dieser Entwicklung, weil er die Kunst als historische Quelle entdeckte und ihr darüber hinaus den Status einer für die Gesellschaft identitätsstiftenden Brücke in die Vergangenheit zusprach.
Diese neue Bedeutung sollte in einem als Denkmal der Kunstgeschichte gestalteten Museumsgebäude öffentliche Würdigung und Zugänglichkeit erfahren. Im Gegensatz zu den Museumsbauten der Romantik im früheren 19. Jahrhundert, die sich auf die moralische Erfüllung des Menschen durch die sinnliche Wirkung der Kunst konzentrierten, hatte das „monumentale Museum“ die Funktion, durch Bildprogramme am Außenbau wie im Inneren die Kunst selbst in ihrer geschichtlichen Entwicklung zu thematisieren.2
Nach der Annexion des Kurfürstentums Hessen-Kassel durch das Königreich Preussen 1866 kam es auch in Kassel zum Bau eines modernen, monumentalen Kunstmuseums. Der Kasseler Architekt Heinrich von Dehn-Rotfelser (1825–1885) errichtete 1871–77 ein neues Galeriegebäude, das die berühmte Gemäldesammlung Wilhelm VIII. endlich wieder adäquat beherbergen sollte, die seit der Restauration nur provisorisch gezeigt werden konnte. Dabei zielte diese erste große Baumaßnahme in Kassel unter preussischer Regierung auf die Akzeptanz der neuen politischen Situation in der Stadtbevölkerung ab, begünstigt durch die Beschäftigung regionaler Handwerker und Künstler.3
Dehn-Rotfelser reiste zur Vorbereitung 1869 für zwei Monate durch Deutschland, England, Belgien und Frankreich, um die architektonischen Besonderheiten europäischer Sammlungsgebäude kennen zu lernen.4 Nicht überraschend wurde jedoch die 1826–36 errichtete Alte Pinakothek in München richtungsweisend für den Bau der Gemäldegalerie in Kassel. Dehn-Rotfelser bediente sich an dem typenbildenden Monumentalbau des Architekten Leo von Klenze (1784–1864), der durch seine architektonische Funktionalität sowie die am Sammlungsbestand orientierte Raumplanung einen nicht zu überbietenden Standard für die Präsentation von Gemälden gesetzt hatte.
Für Kassel adaptierte Dehn-Rotfelser die baulichen Errungenschaften der Pinakothek, die Kombination eines langgestreckten Mittelbaus mit Oberlichtsälen, auf der Nordseite angeordneten Seitenlichtkabinetten und einer Süd-Loggia, deren räumliche Proportionen er gemäß dem kürzeren Grundstück und dem viel kleineren Gemäldebestand in Kassel deutlich reduzierte. Sowohl das Raumschema, die Orientierung des Gebäudes nach der Sonneneinstrahlung, wie auch die funktionale Verortung der Galeriesäle im Obergeschoss schufen inzwischen als optimal geltende Belichtungsbedingungen für die Gemälde.

Grundrisse der neuen Gemäldegalerie in Kassel (aus Heinrich von Dehn-Rotfelser: „Das neue Gemäldegalerie-Gebäude zu Cassel“, Berlin 1879) im Vergleich zu den Grundrissen der Alten Pinakothek in München (aus Leo von Klenze: „Sammlung architektonischer Entwürfe“, München 1847).
Im Kasseler Beispiel deutet sich der charakteristische, H-förmige Grundriss der Pinakothek jedoch nur an, da die Eckpavillons lediglich auf der Südseite leicht aus dem länglichen Gebäudequader hervortreten. Sowohl die geschosstrennenden Gesimsbänder als auch die unterschiedlich dichten Fensterreihungen stellen die funktionale Nutzung der jeweiligen Stockwerke heraus. Dies macht die innere Struktur nach außen transparent und veranschaulicht mit einem schlichter gehaltenen Erdgeschoss den Standort des Magazins, mit einem kunstvoller gestalteten Obergeschoss den Unterbringungsort der Gemälde.
Weitere Parallelen zur Pinakothek finden sich zudem in der Fassadengestaltung der Kasseler Gemäldegalerie: Wie in München hat man durch eine unterschiedlich starke Verwendung von Schmuckelementen eine ästhetische Gewichtung der Gebäudeseiten vorgenommen. Dabei fand die zur Gartenanlage der „Karlsaue“ gewandte Südfassade besondere Beachtung. Sie ist mit einem abwechslungsreichen Figurenprogramm bestückt, das dem vorbildgebenden Renaissance-Stil Klenzes einen reicheren, klassizistischen Akzent verleiht. Genien schmücken die Bogenzwickel der Fenster der Eckpavillons, zwei vom antiken Tempelbau entlehnte Karyatiden, weibliche Figuren anstelle von Säulen, tragen das Vordach des Südportals und allegorische Reliefs der Musen in den Giebeln der Eckpavillons, die sowohl die ästhetische wie die historische Herangehensweise an die Kunst verkörpern, komplettieren die Gesamtwirkung.
Der Museumsbesucher betrat das Galeriegebäude über den östlichen Eingang, der in Kassel durch ein Portikus-Motiv markiert wird und damit auf die Südfassade der Alten Pinakothek zurückgreift. Der Haupteingang der Kasseler Gemäldegalerie wurde vor der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg noch durch zwei Nischenfiguren flankiert, die mit den Künstlerpersönlichkeiten Rembrandt und Rubens den holländisch-flämischen Sammlungsschwerpunkt andeuteten.5
Von hier aus gelangte man über ein repräsentatives Treppenhaus, das den gesamten Eckpavillon ausfüllte, in das Obergeschoss, wo der Museumsbesucher auf der Balustrade von acht Länderfiguren empfangen wurde, die allegorisch die prägendsten europäischen Kunstzentren darstellten. Die Betonung von kunstgeschichtlichem Erbe in historistischen Nationendarstellungen ähnelte der Künstlerbalustrade auf der Südfassade der Alten Pinakothek, die hier sozusagen ins Innere des Gebäudes verlegt worden war.
Des Weiteren stellte die Loggia auf der Südseite des Obergeschosses ein wichtiges räumliches und thematisches Verbindungsglied innerhalb des Museumsrundgangs dar: Sie verknüpfte mehrere Ausstellungsräume miteinander, fügte mit ihrem umfangreichen Bildprogramm die Kunst in einen (kunst-) historischen Kontext ein und bot mit ihrem Ausblick auf die „Karlsaue“ zugleich einen Ruhe- und Reflexionsraum. Das Motiv der bildergeschmückten Loggia geht auf einen im Vatikan in Rom befindlichen Raum zurück, der im 16. Jahrhundert von Raffael und seiner Werkstatt ausgestaltet und in der Alten Pinakothek als „erste monumentale künstlerische Darstellung der Kunstgeschichte“ für den Museumsbau adaptiert worden war.6
Die durch das Bildprogramm im Inneren der Museumsräume hergestellte Betonung von Künstlerpersönlichkeiten, Nationalitäten und Malerschulen verknüpfte und komplettierte die allegorischen und historischen Verweise an der Außenfassade zu einem inhaltlichen Gesamtgefüge. Die dekorativ-künstlerische Ausgestaltung und die wissenschaftliche Konzeption des Museums verbanden sich zu einem Gesamtkunstwerk, einem „Monument für die Kunst“.7 Im Zuge der Museumsreformbewegung im 20. Jahrhundert und ihrer Kritik am „monumentalen Museum“ verblasste schließlich dieser Denkmalcharakter, indem der Museumsbau sukzessive sein programmatisches Gestaltungskonzept verlor.8
Laila-Marie Busse, Johanna Wurz (mit Vanessa Bonfig)
- Begriffsprägung von Plagemann, Volker: Das deutsche Kunstmuseum 1790–1870, München 1967. ↩
- Sheehan, James J.: Geschichte der deutschen Kunstmuseen. Von der fürstlichen Kunstkammer zur modernen Sammlung. München 2002, S. 175-176. ↩
- Herzog, Erich: Die Neue Galerie in Kassel. Gebäude und Sammlung bis zur Eröffnung 1976, in: Aus hessischen Museen 3, 1983, S. 133. ↩
- Heinz, Marianne; Voermark, Katrin: Neue Galerie Kassel – Architektur, Petersberg 2011, S. 10. ↩
- Heinz/Voermark, S. 18. ↩
- Zit. nach Plagemann, S. 89. ↩
- Plagemann, S. 30; vgl. auch Sheehan, S. 188. ↩
- Plagemann, S. 197-198. ↩