Die Museumsreformbewegung des 20. Jahrhunderts
In den Jahren um 1890 begann im deutschsprachigen Raum ein reger Diskurs über das Ausstellungs- und Museumswesen. In diesem Zusammenhang wurde auch die traditionelle Ausstellungspraxis von Kunstmuseen mit ihrer wandfüllenden Hängung und der Eintönigkeit der Schauräume zunehmend kritisiert. Bald setzten sich neue Maßstäbe bei der Anlage von Museumsgebäuden und ihrer Ausstellungsräume auch in der Museumspraxis durch.

Blick durch die Oberlichtsäle der Gemäldegalerie in Kassel in der Hängung von Oskar Eisenmann, Aufnahme um 1900.
Seit ihrer Eröffnung 1877 war Oskar Eisenmann der erste Direktor der neuerbauten Gemäldegalerie in Kassel gewesen. Unter seiner Leitung war die Sammlung noch nach alten, traditionellen Idealen geführt worden. Es galt als selbstverständlich, den gesamten Bestand auszustellen, wodurch sich eine wandfüllende Hängung der Bilder in mehreren Reihen übereinander ergab. Innerhalb dieser Hängung gab es – wie üblich – eine symmetrische Gliederung der Wände durch Mittelstücke und sie flankierende Pendants. Für die Oberlichtsäle hatte Eisenmann eine gemusterte rot-braune Wandbespannung als einheitlichen Hintergrund gewählt, während sich in den kleineren Seitenkabinetten rotbraune und stumpfgrüne Tapeten abwechselten.1

William Unger, Radierung nach Peter Paul Rubens‘ „Madonna mit Heiligen“, aus: Oskar Eisenmann, „Die Meisterwerke der Gallerie zu Cassel. Neununddreissig Radierungen von William Unger“, 2. Aufl., Leipzig 1886.
Entsprechend der Dreiteilung des Baukörpers in Mitteltrakt und Eckpavillons hatte er drei unterschiedlich große Ausstellungsgruppen gebildet. Die Flamen und Holländer des 17. Jahrhunderts als größter und bedeutendster Sammlungsbereich hingen in den mittleren Oberlichtsälen. Die altdeutschen und altniederländischen Gemälde und die Werke der romanischen Länder, Italien, Spanien und Frankreich, fasste er jeweils in den beiden Pavillons zusammen. Innerhalb dieser Zuordnung waren die Gemälde jedoch nicht nach Malern, Werkstattgemeinschaften oder Regionalschulen geordnet. Statt dessen verteilten sich beispielsweise die Werke Rembrandts über mehrere Säle und Kabinette. Denn Eisenmanns „lineares“ Hängeprinzip zeichnete sich dadurch aus, dass in jedem Saal oder Kabinett mindestens ein bedeutendes Werk Platz fand, wodurch jedem Raum Anziehungskraft gesichert werden sollte.2
Mit seinem Amtsantritt 1910 brachte der neue Direktor Georg Gronau ein anderes Ordnungsprinzip in die Kasseler Gemäldegalerie und passte die Ausstellungspraxis im Zuge einer Renovierung an die modernen Kriterien der Museumsreform an. Der Direktor traf eine qualitativ begründete Auswahl aus dem Gesamtbestand und viele bisher ausgestellte Gemälde verschwanden im eigens dafür geschaffenen Depot. Dadurch konnte Gronau sich bei der Anordnung der Werke auf zwei Reihen beschränken und die Bilder stärker voneinander isolieren. So durften in der unteren Reihe die bedeutendsten Bilder genauer betrachtet werden, welche auf Augenhöhe des Besuchers platziert wurden. In der Reihe darüber waren weniger bedeutende Gemälde in größerer Entfernung zu sehen, meist Landschaftsbilder oder Stillleben.
Sie dienten zur dekorativen Maskierung der für die ältere Hängeweise angelegten, jetzt unpassend hohen Wandflächen. Die Wände wurden farblich neugestaltet und an die Werkgruppen angepasst, die jetzt systematisch nach ihrer regionalen Herkunft angeordnet worden waren. Die ersten beiden Oberlichtsäle gehörten den Flamen des 17. Jahrhunderts, der dritte war ein neu eingerichteter „Rembrandtsaal“, der Hauptsaal der Galerie, und der vierte Saal wurde den Italienern des 16. und 17. Jahrhunderts zugeteilt.3
Als Hintergrund wählte man für jede Bestandsgruppe differenziert helle grau-grüne oder grau-braune Töne. Die Farbe an der Wand, von der jetzt viel mehr zu sehen war, sollte mit der vorherrschenden Farbigkeit in den davor ausgestellten Bildern harmonieren. Die Eigenwirkung der Gemälde sollte dadurch verstärkt werden und zugleich wurde eine Abwechslung für den Besucher erzeugt.
Einzig das Kabinett des Quattrocento wurde weiss gehalten, weil historische Räume aus der Entstehungszeit dieser Gemälde so gestrichen gewesen waren. Es handelte sich hier also um einen Rückgriff auf das Prinzip des Stilraumes, dem auch die Aufstellung von Möbeln aus der Entstehungszeit der Gemälde in den Oberlichtsälen, etwa im „Rembrandtsaal“, verpflichtet war. Für eine solche Annäherung an die kulturhistorische Ausstellungspraxis in einem Kunstmuseum stand wahrscheinlich die Einrichtung des Kaiser-Friedrich-Museums in Berlin durch Wilhelm von Bode 1903/04 Pate.
Zwar ist die tatsächliche Besucherentwicklung heute nicht mehr nachvollziehbar, aber vereinzelte Informationen und Hinweise lassen die Vermutung zu, dass das Museumspublikum um 1900 nicht nur umfangreicher wurde, sondern sich zugleich veränderte. Nun waren es nicht mehr nur Angehörige der Bildungselite, sondern ein breiteres Publikum aus dem neuen Mittelstand, das Museen besuchte. Diese Veränderung bewirkte, dass die Vermittlung kunsthistorischen Wissens in den Hintergrund und die Bildung des Kunstempfindens, das ästhetische Erlebnis, in den Vordergrund rückte.4
Die Museumsreformbewegung wollte den unterschiedlichen Voraussetzungen, die das größere Publikum mitbrachte, dadurch Rechnung tragen, dass sie eine formal-ästhetische Betrachtungsweise der Kunst privilegierte. Eine strenge Auswahl der Exponate nach formalen Qualitätskriterien sollte dem Besucher nach Möglichkeit nur Meisterwerke präsentieren, die durch eine weiträumige Hängung ohne gegenseitige Beeinflussung zur Geltung kommen sollten. Die Schauräume sollten differenziert und auf die wahrnehmungsästhetischen Eigenschaften der ausgestellten Exponate abgestimmt werden. Bei Museumsneubauten wurde eine Funktionalität für diese Präsentationsweise gefordert, während die älteren Museumsgebäude für die neue Ausstellungspraxis modifiziert worden sind.5
Außer in Kassel setzten sich diese Ziele gleichzeitig auch etwa in Dresden oder in München durch und sorgten für eine Neugestaltung der dortigen Gemäldegalerien. In Dresden forderte der Kulturbeamte Woldemar von Seidlitz 1907 einen Umbau der Oberlichtsäle und die Einrichtung eines als Studiensammlung bezeichneten Depots. Diese Forderungen wurden ab 1910 beim Umbau der Dresdner Galerie durch den neuen Direktor Hans Posse berücksichtigt. Posse liess die Oberlichter tiefer legen und einen Fries einziehen, um die Behangfläche optisch zu verkleinern. Die Größe der Seitenkabinette wurde variiert, um Eintönigkeit zu vermeiden, und die Wände wurden in einem dunklen Grün, hellem Grau-Grün oder in einem dunklen Rot gestrichen, wodurch sie an die wahrnehmungsästhetischen Eigenschaften bestimmter Schulen angepasst werden sollten.6
Konnte in Dresden der Galeriebau des 19. Jahrhunderts dafür durch erhebliche architektonische Eingriffe verändert werden, so durfte Hugo von Tschudi während seiner Umgestaltung der Alten Pinakothek in München 1909-12 die Architektur Leo von Klenzes nicht antasten. Viele seiner Maßnahmen erscheinen deshalb wie Provisorien, bei denen die neue isolierende Hängung kaum im Einklang mit den für eine ganz andere Verwendung konzipierten Räumen steht.7 Die Umgestaltung der Kasseler Gemäldegalerie durch Georg Gronau in den Jahren 1911/12 dagegen zeichnet sich durch einen größeren Handlungsspielraum aus, wenngleich auf einen so umfassenden Umbau wie in Dresden wohl aus finanziellen Gründen verzichtet worden ist. Jede dieser Neugestaltungen jedoch beteiligte sich an der Reform der Ausstellungspraxis des Museums auf eine grundsätzlich vergleichbare Weise. Dieser frühe Erfolg der Museumsreformbewegung in Deutschland markiert einen großen Schritt in Richtung auf das moderne Museum.
Stefanie Emde, Natalia Mandryka (mit Julia Bischoff, Funda Ertas)
- Herzog, Erich: Die Hängung der Kasseler Galerie im Verlauf ihrer Geschichte, in: Hessische Heimat. Zeitschrift für Kunst, Kultur und Denkmalpflege 24, 1974, S. 19. ↩
- Herzog, S. 19. ↩
- Herzog, S. 20-21. ↩
- Joachimides, Alexis: Die Museumsreformbewegung in Deutschland und die Entstehung des modernen Museums 1880–1940, Dresden/Basel 2001, S. 110-112. ↩
- Joachimides, S. 104-109. ↩
- Joachimides, S. 178-186. ↩
- Joachimides, S. 159-165. ↩