Eine verpasste Gelegenheit
Während der Restaurationszeit, nach dem Sieg über Napoleon, erfuhr die Kunst in Deutschland eine neue Aufladung mit Bedeutung im Sinne der romantischen Kunstreligion. In vielen Städten wurden aufwändige neue Museumsgebäude als ‚Tempel der Kunst‘ geplant oder errichtet. In Kassel hat sich diese Auffassung allerdings nicht durchgesetzt, wofür verschiedene politische und gesellschaftliche Gründe verantwortlich gewesen sind. Gerade im Kontrast zu den spektakulären Museumsneubauten des frühen 19. Jahrhunderts in Berlin und München wird die Epoche für den Standort Kassel zu einer verpassten Gelegenheit.
1806 wurde das Kurfürstentum Hessen-Kassel von Frankreich besetzt, woraufhin der regierende Kurfürst, Wilhelm I. (1743–1821), ins Exil flüchtete. Während seiner Abwesenheit amtierte der Bruder von Napoleon, Jérôme Bonaparte (1784–1860), als König des neugeschaffenen französischen Satellitenstaates „Westphalen“ in Kassel. Erst 1813, nachdem die Franzosen militärisch vertrieben worden waren, wurde die Herrschaft Wilhelm I. wiederhergestellt.
Während der Regierungszeit Jérômes als König von Westphalen waren wesentliche Teile der kurfürstlichen Kunstsammlungen, vor allem die Gemäldegalerie Wilhelm VIII. und die antiken Skulpturen aus dem Museum Fridericianum, als Beutekunst nach Frankreich verbracht worden.1 Nach der Rückkehr des Kurfürsten wurde eine einheimische Gelehrten-Kommission damit beauftragt, diese Kriegsbeute für Hessen-Kassel zurückzufordern. Der Erfolg ihrer Mission in Paris in den Jahren 1814/15 war unterschiedlich: Während die meisten Skulpturen aufgefunden werden konnten, blieb mehr als ein Drittel des konfiszierten Gemäldebestandes, insgesamt 382 von 869 Gemälden, aufgrund der Verlagerung in französische Provinzmuseen oder private Veruntreuung unauffindbar.2
In der Kasseler Bevölkerung bestand durchaus ein Interesse, die verschwundenen Werke wiederzuerlangen, wie die von dem damals in Kassel lebenden Wilhelm Grimm überlieferte „allgemeine Freude“, mit der das Volk die zurückkehrenden Kunstwerke 1815 empfing, vermuten lässt, selbst wenn dieses Anliegen vorrangig innerhalb der bürgerlichen Elite verfolgt wurde.3 Trotzdem verzichtete der Kurfürst auf jeden ihm vorgeschlagenen Versuch, früheren Gemäldebesitz auf dem Kunstmarkt zurück zu erwerben, auch wenn dies in den ersten Jahren nach der Restauration noch möglich gewesen wäre.

Der 1811 umgebaute Galeriesaal im Palais des Landgrafen Wilhelm VIII. nach der Entfernung der Zwischendecke für die Nutzung als Barockgalerie des 1935 eingerichteten sog. „Landgrafenmuseums“, Aufnahme ca. 1935-39.
Dieselbe Gleichgültigkeit zeichnet auch seinen Umgang mit den in der französischen Besatzungszeit zweckentfremdeten und architektonisch stark veränderten Kasseler Museumsgebäuden aus. Das Museum Fridericianum war trotz des Umbaus seines Treppenhauses zum Sitzungssaal der Ständeversammlung weitgehend in derselben Art wie vor 1806 museal nutzbar. Nachdem 1811 das Stadtschloss niedergebrannt war, hatte König Jérôme das Palais des Landgrafen Wilhelm VIII. als innerstädtische Residenz genutzt und dessen funktionslos gewordenen, da nicht mehr für Gemälde benötigten Galeriesaal mit einer Zwischendecke und einer Reihe von bodenlangen Fenstern für den so entstandenen Erdgeschossraum zu einem Ballsaal umgestalten lassen. Obwohl diese Eingriffe die Möglichkeit einer erneuten Galerienutzung erheblich beeinträchtigten, wurden sie nach der Rückkehr der Gemälde in das Palais im Jahre 1815 unter Wilhelm I. nicht wieder rückgängig gemacht.

Anonymer Zeichner, Hängeplan für den zum Ballsaal umgebauten unteren Teil des Galeriesaales im Palais des Landgrafen Wilhelm VIII. nach der Rückkehr der Bilder aus Paris, Handzeichnung, 1815, Museumslandschaft Hessen-Kassel (Archiv der Staatlichen Kunstsammlungen).
Ihre Hängung, die nun Repräsentationsräume aus der Zeit Wilhelm VIII. und Jérômes nutzte, war eine völlig andere als vor 1806, auch weil viele Bilder inzwischen fehlten und der Abtransport weiterer wichtiger Werke auf Geheiss des Kurfürsten nach Schloss Wilhelmshöhe, um dort als Wanddekoration zu dienen, den Bestand zusätzlich reduzierte. Die wenigen Neuzugänge an Gemälden dagegen waren von geringem Wert, während für die Antikensammlung überhaupt keinerlei Ankäufe mehr vorgenommen wurden.4 Obwohl die provisorisch wiederhergestellte Gemäldegalerie von auswärtigen Besuchern immer noch gern besucht wurde, ebbte die Begeisterung innerhalb Kassels zunehmend ab.5 Dafür waren nicht zuletzt die einschränkenden Zugangsbedingungen verantwortlich, nachdem der Kurfürst Forderungen aus dem Bürgertum nach freiem Eintritt und erweiterten Öffnungszeiten für die Museen konsequent ignorierte.6
Auch unter den beiden Nachfolgern Wilhelm I. veränderte sich die Museumspolitik nicht grundsätzlich. Unter der Regentschaft Wilhelm II. (1821–47) ist ein Zuwachs von Gemälden in der Sammlung erkennbar. Nach seinem Rückzug aus der Politik wurde sein Sohn Friedrich Wilhelm I. (1802–75) 1831 Prinzregent und 1847 der letzte Kurfürst von Hessen-Kassel. In seiner Amtszeit wurde die Sammlung nicht erweitert und die Galerie nahm den Charakter eines „unlebendigen Gliedes“ an.7 1866 wurde aus dem Kurfürstentum Hessen-Kassel eine Provinz des Königreichs Preussen, in dessen Verantwortung es schließlich ab 1877 zu einem Galerieneubau für die Kasseler Gemälde kommen sollte.

Die Hauptfassade der Glyptothek auf dem Königsplatz in München im heutigen Zustand, Aufnahme um 1993.
Während der Bau eines neuen Museums, ja selbst der bescheidene Rückbau des alten Galeriesaales, bis zu dieser Zeit in Kassel keine Rolle spielte, entstanden in Städten wie Berlin und München, später auch Dresden oder Stuttgart, anspruchsvolle Neubauten. In Berlin hatte man bereits 1797 eine Museumsgründung geplant, die der Architekt Karl Friedrich Schinkel schließlich 1825–30 mit dem „Alten Museum“ für Skulpturen und Gemälde realisierte. In München wurde der Architekt Leo von Klenze 1816 mit dem Bau der „Glyptothek“ für antike Skulpturen und 1826 mit dem Bau der „Pinakothek“ für die Gemäldesammlung beauftragt.

Carl Emanuel Conrad, Die Rotunde im Alten Museum in Berlin, Aquarell ca. 1834/35, Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Potsdam (Plankammer).
In beiden Fällen waren die Auftraggeber politisch konservative Monarchen, die jede Form politischer Teilhabe ihrer Untertanen ablehnten. In Berlin waren die fürstlichen Sammlungen wie in Kassel erst durch ihre Verschleppung nach Frankreich und ihre triumphale Rückkehr nach dem Sieg über Napoleon wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Es finden sich in München und Berlin also ähnliche politische Voraussetzungen wie in Kassel. Während man sich dort allerdings entschloss, dem Bürgertum mit Museumsneubauten zumindest in seinem Anspruch auf kulturelle Teilhabe entgegenzukommen, entwickelte sich Kassel in eine entgegengesetzte Richtung.
Berlin und München standen in Konkurrenz zueinander. Beide erhoben für sich den Anspruch, den Erwartungen der romantischen Kunstreligion in Form von pseudo-sakralen Museumsgebäuden zu entsprechen. Diese auch zur Repräsentation der restaurierten Monarchie als „Kulturstaat“ dienenden Gebäude waren dafür gedacht, ein breites Publikum anzulocken. Dass vergleichbare Absichten in Kassel nicht zum tragen gekommen sind, hat vielschichtige Ursachen. Das örtliche Bürgertum erreichte offensichtlich nicht die kritische Masse, die eine Berücksichtigung seiner Ansprüche notwendig hätte erscheinen lassen. Dem Kurfürst fehlte zudem die Einsicht in die Vorteile der Museumsarchitektur als Repräsentationsinstrument, so dass er andere Prioritäten setzte, wie den Neubau eines Stadtschlosses oder den Ausbau der Löwenburg zur bewohnbaren Mittelaltersimulation im Park seiner Sommerresidenz Wilhelmshöhe. Intellektuelle wie die Gebrüder Grimm konnten sich nicht gegen ihn durchsetzen und verließen Kassel 1821. In Berlin und München dagegen verknüpften Wortführer wie Hirt und Schinkel oder Mannlich und Dillis, die sich für den Sammlungsausbau und die Museen einsetzten, die Interessen des gebildeten Bürgertums erfolgreich mit den politischen Ambitionen des regierenden Fürsten.
Melanie Becker, Nadine Vehling (mit Lena Dittmar, Veronika Graceva)
- Savoy, Bénédicte: Kunstraub. Napoleons Konfiszierungen in Deutschland und die europäischen Folgen. Mit einem Katalog der Kunstwerke aus deutschen Sammlungen im Musée Napoléon, Wien 2010. ↩
- Zu den Zahlen vgl. Herzog, Erich: Die Hängung der Kasseler Galerie im Verlauf ihrer Geschichte, in: Hessische Heimat. Zeitschrift für Kunst, Kultur und Denkmalpflege 24, 1974, S. 18; Lange, Justus: Wilhelm VIII. und der Geschmack, in: Jahrbuch Museumslandschaft Hessen Kassel 2, 2010, S. 90. ↩
- Zit. nach Gronau, Georg: Geschichte der staatlichen Kunstsammlungen Kassel, in: Erich Herzog (Hg.): Die Gemäldegalerie der Staatlichen Kunstsammlungen Kassel, Hanau 1969, S. 55. ↩
- Gronau, S. 55. ↩
- Gronau, S. 56. ↩
- Gronau, S. 55 mit Bezug auf eine Forderung von Wilhelm Grimm. ↩
- Zit. nach Gronau, S. 56. ↩