Entstehung des modernen Kunstbegriffes
Zwischen Auehang und Frankfurter Straße befand sich einst hinter dem Palais des Landgrafen die Gemäldegalerie Wilhelms VIII., welche einen wesentlichen Teil der Gemälde umfasste, die heute in Schloss Wilhelmshöhe zu besichtigen sind. Die Geschichte dieser Gemäldegalerie verdeutlicht nicht nur das Engagement eines Fürsten bei der Zusammenstellung seiner Sammlung und bei der Planung eines solchen Baus, sondern sie trug maßgeblich zur Entstehung eines neuartigen Belichtungskonzeptes für Gemäldegalerien bei.

Johann Heinrich Tischbein d. Ä. (Schule), Porträt Landgraf Wilhelm VIII. von Hessen-Kassel, Öl auf Leinwand um 1755, Museumslandschaft Hessen-Kassel (Gemäldegalerie Alte Meister).
Als einer der jüngeren Söhne des Landgrafen Karl (1654–1730) verbrachte der spätere Wilhelm VIII. von Hessen-Kassel (1682–1760) einen Großteil seiner Jugend in Holland, begann 1699 dort eine militärische Laufbahn und trat später in den Kriegsdienst der niederländischen Republik ein. In dieser Zeit entwickelte sich Wilhelm zum kenntnisreichen Liebhaber der niederländischen Kunst, die seinen Geschmack zeitlebens prägte. Etliche dort geknüpfte Kontakte zu Künstlern, Kunsthändlern und Sammlern sollten ihm später bedeutende Gemäldeankäufe ermöglichen. Nach dem Tod seines Vaters, im Jahre 1730, wurde er zunächst Statthalter seines älteren Bruders in Kassel und nach dessen kinderlosem Tod 1751 schließlich selbst regierender Landgraf.
Obwohl viele seiner Zeitgenossen die Werke der großen Meister der italienischen Hochrenaissance aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bevorzugten, richtete sich Wilhelms Sammelleidenschaft besonders auf die flämische und holländische Malerei des 17. Jahrhunderts. Dabei legte er den Schwerpunkt auf den Erwerb möglichst vieler charakteristischer Werke seiner favorisierten Künstler, zu denen neben Rubens und Rembrandt auch Philip Wouwerman oder Adriaen van der Werff gehörten.1 Sogar bei seiner Flucht aus Kassel während der französischen Besetzung der Stadt im Siebenjährigen Krieg 1758 ließ er sich eine Auswahl seiner Lieblingswerke ins Exil nachschicken, unter denen die holländischen und flämischen Künstler dominierten.2

Seite 54 aus dem Inventar der Gemälde Wilhelm VIII. („Haupt-Catalogus von Seiner Hochfürstl. Durchlaucht Herren Landgrafen Wilhelm zu Hessen sämtlichen Schildereyen, und Portraits“), Handschrift 1749, Museumslandschaft Hessen-Kassel (Archiv der Staatlichen Kunstsammlungen).
Trotzdem beabsichtigte er wohl, einen umfassenden Überblick über die europäische Malerei zusammen zu tragen, auch wenn seine Erwerbungen italienischer Gemälde aufgrund mangelnder Kontakte auf dem dortigen Kunstmarkt, inzwischen nicht mehr anerkannter Zuschreibungen und späterer Verluste heute weniger eindrucksvoll erscheinen. Einem etwas größeren Kontingent deutscher Bilder standen nur relativ wenige Werke der französischen Schule und gerade einmal zwei spanische Bilder gegenüber, sei es aus Mangel an Kaufgelegenheiten oder aus Gründen politischer Gegnerschaft. Der protestantische Fürst erwarb jedoch ohne weiteres Gemälde mit ausgeprägt katholischen Sujets. Offenbar nahm er Bilder wie Rubens‘ Altargemälde mit Maria, Jesus und Johannes, von ihrer liturgischen Funktion losgelöst, bereits als autonome Kunstwerke wahr.3

Das Palais des Landgrafen Wilhelm VIII. an der Frankfurter Straße mit dem rechts anschließenden Galeriegebäude, Aufnahme vor 1938.
Mitte des 18. Jahrhunderts war die Gemäldesammlung so angewachsen, dass die Räume des Palais an der Frankfurter Straße, in denen der Landgraf wohnte, nicht mehr ausreichten. In der Idealvorstellung Wilhelms VIII. sollte durch Anbauten eine Gruppe von zwei Galeriesälen für die italienischen und die niederländischen Bilder entstehen, die durch einen Festsaaltrakt verbunden worden wären. Davon konnte am Ende nur der niederländische Galerieflügel realisiert werden, für dessen Errichtung der bayerische Hofarchitekt François Cuvilliés der Ältere (1696–1768) engagiert wurde.4
Mit dem Beginn des Baus, im Herbst 1749, lagen Pläne für eine konventionelle Galerie mit einer einzigen, auf Augenhöhe ansetzenden Fensterfront vor, die das damals übliche Seitenlicht auf die gegenüberliegende geschlossene Bilderwand werfen sollte. Jedoch ließ Wilhelm VIII. bereits im September 1750, als der Dachansatz erreicht war, die Arbeiten unterbrechen.5 Der Grund für diese Unterbrechung war vermutlich der Besuch des französischen Kunstsammlers Marquis Voyer d’Argenson, durch den der Bauherr Anregungen für eine andere Belichtungsart bekommen hatte.
D’Argenson erweckte dabei den irrtümlichen Eindruck, dass die Galerie im Palais Royal, dem Wohnsitz des Herzogs von Orléans in Paris, durch Fenster in den Dachschrägen von oben beleuchtet würde. Angetan von dieser Idee, forderte Wilhelm VIII. genaue Pläne dieses Gebäudes an. Es stelle sich zwar heraus, dass nicht die Galerie selbst, sondern lediglich der angrenzende Salon durch Licht von schräg oben aus einer senkrechten Fensterzone unter der Decke beleuchtet wurde. Wilhelm VIII. war von der Vorstellung einer solchen Lichtführung so fasziniert, dass er sie in jedem Fall für seine Galerie wünschte.

Benjamin Zix, Die Konfiszierung der Gemälde in der Kasseler Galerie durch die französische Kunstkommision, Handzeichnung 1807, Bibliothèque nationale de France, Paris.
Heute lässt sich nicht mehr zweifellos rekonstruieren, wie die fertiggestellte Galerie aussah – das Gebäude wurde in späterer Zeit mehrfach umgebaut und im Zweiten Weltkrieg vollständig zerstört. Es existieren auch keine Darstellungen oder Pläne aus dem 18. Jahrhundert. Lediglich eine Zeichnung von Benjamin Zix, welche die Konfiszierung der Kasseler Gemäldegalerie durch die französische Beutekunst-Kommission im Jahre 1807 zeigt, vermittelt trotz der bereits abgehängten Bilder eine Vorstellung, wie sie ursprünglich ausgesehen hat.
Der große Bildersaal, der durch zwei Geschosse reichte, war von außen schlicht gehalten, erhielt im Inneren jedoch einen festlichen Charakter. Die aus der neuen Lichtkonzeption resultierende verdoppelte Hängefläche zeigte die Gemälde, wie in der Barockzeit üblich, eng nebeneinander und über die gesamte Breite und Höhe gehängt, sodass ein teppichartiger prächtiger Eindruck entstand.6 Die hochliegenden, senkrechten Fenster im aufgesetzten Wandabschnitt unterhalb der Decke bildeten ein nur von schmalen pfeilerartigen Wandstücken unterteiltes Lichtband, das je nach Tageszeit eine der beiden Wände mit steil von oben einfallendem Seitenlicht weitgehend blendungsfrei beleuchtete.
Die neue Art der Lichtführung stellte einen maßgeblichen Schritt in Richtung auf die Beleuchtung von Gemäldegalerien im 19. Jahrhundert dar, als es üblich wurde, senkrecht von oben einfallendes Licht für die Ausstellung von Gemälden zu verwenden. Als Vorstufe für dieses eigentliche „Oberlicht“ ermöglichte die Lösung in Kassel zudem ein Umdenken im Umgang mit den Werken. Dem Betrachter war es nun möglich, in viel größerem Umfang Vergleiche zwischen den Gemälden und ihren gestalterischen Merkmalen anzustellen. In letzter Konsequenz führte ein produktives Missverständnis zur Neudefinition der optimalen Beleuchtung von Gemälden wie zu einer veränderten Betrachtungsweise ihrer maßgeblichen Eigenschaften.
Annemarie Kruggel, Melanie Urspruch (mit Cathrin Otto, Marcia Pein)
- Lange, Justus: Wilhelm VIII. und der Geschmack, in: Jahrbuch Museumslandschaft Hessen Kassel 2, 2010, S. 92-94. ↩
- Lange, S. 95. ↩
- Schnackenburg, Bernhard: Gemäldegalerie Alte Meister. Gesamtkatalog, Mainz 1996, Bd. 1, S. 262-263 (GK 119). ↩
- Schnackenburg, Bernhard: Der Kasseler Gemäldegaleriebau des 18. Jahrhunderts und neuentdeckte Pläne dazu von François Cuvilliés d. Ä., in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst (3. F.) 49, 1998/1999, S. 163-184. ↩
- Zur folgenden Rekonstruktion der Baugeschichte zuletzt Heraeus, Stefanie: Top Lighting from Paris in 1750. The Picture Gallery in Kassel and its Significance for the Emergence of the Modern Museum, in: Andrea Meyer/Bénédicte Savoy (Hg.): The Museum is Open. Towards a Transnational History of Museums 1750–1940, Berlin 2014, S. 61-77. Eine deutsche Version dieses Aufsatzes finden Sie hier. ↩
- Vgl. auch Lange, Justus; Trümper, Timo: Die Gemäldegalerie von Wilhelm VIII. Ein Rekonstruktionsversuch, in: Jahrbuch Museumslandschaft Hessen Kassel 3, 2011, S. 84-91. ↩