Museen zeitgenössischer Kunst und die Avantgarde
Die Bestände der staatlichen Museen in Kassel gehen zum allergrößten Teil auf die Sammeltätigkeit hessischer Regenten zurück. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts, spätestens aber mit der preussischen Annexion von 1866, hörten diese Kunstsammlungen auf ergänzt zu werden. Bis in das spätere 20. Jahrhundert fand die zeitgenössische Kunst über einen langen Zeitraum keinen Eingang in diese Sammlungen.
„Was sich in Kassel an Kunst vereinigt findet, das ragt aus der Vergangenheit herüber. Die Stadt verdankt es kunstsinnigen Fürsten. Und aus der alten Gewohnheit, alles von gekrönten Häuptern zu erwarten, ist die Stadt, die sich mit Vorliebe Residenz nennt, nie herausgekommen. Über dieser Erwartung wird die lebendige Gegenwart versäumt.“1 So beklagte sich ein Autor im Jahre 1907 über die verpasste Gelegenheit, Anschluss an die Kunst des 19. Jahrhunderts gefunden zu haben, doch die Einrichtung einer Galerie mit jüngeren Kunstwerken in Kassel erforderte noch mehr als ein weiteres Jahrzehnt.

Ansicht des „Bose-Museums“ in der Villa der Stifterin in der Luisenstraße im Stadtteil Vorderer Westen, Aufnahme nach 1896.
Die Entstehung einer städtischen Kunstsammlung wurde durch eine Stiftung der Gräfin Luise Bose begünstigt. Im Jahre 1883 hinterliess sie ihrer Heimatstadt eine Vielzahl von Gemälden sowie eine Bibliothek, Möbel und Schmuckstücke. Bei den Gemälden handelt es sich, neben Werken aus der Zeit der Romantik und des Biedermeiers, um Porträts hessischer Landgrafen und Kurfürsten, die teils noch aus dem Besitz ihres Vaters, des Kurfürsten Wilhelm II., stammten. Diese Stiftung wurde ab 1896 in der von der Gräfin mitgestifteten Villa als „Bose-Museum“ ausgestellt.2
Bereits im Jahre 1864 hatte die Stadt Kassel zehn neuere Ölgemälde vom „Verein für bildende Künstler“ erhalten, der 1871 mit dem „Kasseler Kunstverein“ fusionierte. Vom Kunstverein wurden 1910 weitere 35 Gemälde von der Stadt übernommen. Im Rahmen der Kunstausstellung, die während der Tausendjahrfeier der Stadt im Jahre 1913 stattfand, wurden finanzielle Mittel für Ankäufe zeitgenössischer Kunstwerke mobilisiert. So konnten Werke aus dem Umfeld der Kasseler Kunstakademie und der in der Nähe beheimateten Willingshäuser Malerkolonie für den städtischen Besitz erworben werden.3
Doch obwohl sich diese Gemälde in städtischem Besitz befanden, blieben sie nicht zugänglich, da sie in verschiedenen Amtsräumen des Rathauses untergebracht waren. Um die Sammlung der Öffentlichkeit zu präsentieren, wurden eigene Räumlichkeiten benötigt, die erst mit dem Ende der Monarchie 1918 zur Verfügung standen. Nach der Revolution schlug der Direktor der staatlichen Gemäldegalerie und Vorsitzende des Kunstvereins, Georg Gronau, eine Zusammenführung des städtischen Gemäldebesitzes mit dem „Bose-Museum“ in einem zentral gelegenen Anwesen der Krone vor, in dem die städtische Galerie am 17. Juli 1921 von Oberbürgermeister Philipp Scheidemann eröffnet wurde.4

Ansicht des „Weißen Palais“ am Friedrichsplatz als Standort der städtischen Galerie seit 1921, Aufnahme 1923.
Bemerkenswert ist die Wahl des Standorts für dieses neue Museum. Zur Unterbringung diente das zweite Obergeschoss des „Weißen Palais“ am Friedrichsplatz, das 1769 für den Minister von Jungken erbaut worden war und seit 1831 als Wohnhaus des letzten Kurfürsten von Hessen gedient hatte, bis es 1866 an die preussische Krone fiel. Die ehemaligen Dienstbotenräume wurde für die Präsentation der städtischen Sammlung vollständig neu gestaltet. Da die Absicht bestand, die Galerie stetig zu erweitern, war es ein Vorteil, dass hier in Zukunft angrenzende Räume hinzugemietet werden konnten. Die sozialdemokratisch regierte Stadt griff hier einer reichsweit schwelenden Diskussion vor, wie mit den Gebäuden der zusammengebrochenen Monarchie verfahren werden konnte, lange bevor die juristischen Fragen der „Fürstenenteignung“ endgültig entschieden wurden.
![Werbung für die städtische Galerie Kassel Werbung für die städtische Galerie Kassel mit Lyonel Feinigers Gemälde „Klarissenkirche“ (aus „Führer Kassel Wilhelmshöhe“, Kassel [ca. 1930]).<br>Quelle: Universitätsbibliothek Kassel, Landes- und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel.](http://www.museumsgeschichte.uni-kassel.de/wordpress/wp-content/uploads/2013/07/09_Abb_3-279x300.jpg)
Werbung für die städtische Galerie Kassel mit Lyonel Feinigers Gemälde „Klarissenkirche“ (aus „Führer Kassel Wilhelmshöhe“, Kassel [ca. 1930]).
In den folgenden Jahren ist die Zahl privater Schenkungen und Stiftungen angestiegen, da die Stadt nun über einen Ort verfügte, an dem ihre Kunstwerke der Öffentlichkeit präsentiert werden konnten. Zusätzlich erwarb die Kommune jetzt auch regelmäßig aus eigener Initiative Werke der Gegenwartskunst. In diesem Zusammenhang sind die entscheidenden Impulse für den Erwerb von modernen Kunstwerken, gerade auch von den damals noch heftig umstrittenen Vertretern der Avantgarde, von dem Stadtrat und Professor der „Staatlichen Kunstgewerbeschule“ Hans Sautter ausgegangen. So wurde beispielsweise 1927 mit der „Klarissenkirche“ ein Gemälde des damals am Bauhaus in Dessau unterrichtenden Lyonel Feiniger erworben, offenbar ein prominentes Exponat, da dessen Abbildung in den anschließenden Jahren in Broschüren des Stadtverkehrsamtes für den Besuch der städtischen Kunstsammlungen warb.5

Eröffnung der städtischen Galerie im „Kunsthaus“ 1937 mit einer Rede von Schulrat Dr. Heilig, Aufnahme 1937.
Das Jahr 1933 mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten bedeutete einen erneuten Rückschlag für die städtische Galerie, langfristig vor allem da in der Folge moderne Werke, die als „entartete Kunst“ bezeichnet wurden, vernichtet oder ins Ausland verkauft worden sind. Schon 1934 aber verlor die Sammlung ihren Ausstellungsraum, der eine anderweitige Verwendung fand. Sie blieb eingelagert, bis sie 1937–39 im sogenannten „Kunsthaus“ am Ständeplatz, dem Gebäude des Kasseler Kunstvereins, noch einmal kurzzeitig ausgestellt worden ist. Der Schwerpunkt dieser Präsentation lag nun wieder auf dem 19. Jahrhundert. Im Zentrum stand fast ausschließlich die Sammlung der Gräfin Bose, auch wenn sie selbst keine Erwähnung mehr fand.6 Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde die Sammlung eingelagert, um Verluste zu verhindern.
1946 führte man die Kunstwerke der städtische Galerie von zehn unterschiedlichen Auslagerungsorten in das Gebäude des Hessischen Landesmuseums, dem einzigen nicht zerstörten Museum in Kassel, zusammen.7 Vier Jahre später übernahm mit Walter Kramm erstmals ein eigener Direktor ihre Leitung und 1954 stand das inzwischen von der Stadt erworbene „Palais Bellevue“ als Ausstellungsort für die städtische Kunstsammlung zur Verfügung, die sich dort bis 1966 in einem regelmäßigen Ausstellungsprogamm der Öffentlichkeit präsentierte. Wie überall in Westdeutschland versuchte man auch in Kassel in der Nachkriegszeit, den Verlust von Werken der klassischen Moderne im Zuge der NS-Aktion „Entartete Kunst“ durch Neuerwerbungen zu kompensieren und den mittlerweile historisch gewordenen Bestand des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart zu erweitern. Gegen den Widerstand von Kramm wurde 1971 der Zusammenschluss der Bestände von städtischer und staatlicher Kunstsammlung in der zwischenzeitlich wiederaufgebauten ehemaligen Gemäldegalerie vollzogen, die als „Neue Galerie“ die Kunstwerke des 19. und 20. Jahrhunderts, die sich in den öffentlichen Sammlungen Kassels befinden, heute gemeinsam präsentiert.
Johannes Peter, Yannick Philipp Schwarz (mit Lea Becker, Stephanie Harder)
- Vorkampf, Franz: Kassler Kunstleben, in: Heidelbach, Paul (Hg.): Hessische Heimat. Ein literarisches Jahrbuch, Bd. 2, Kassel 1907, S. 115-138, hier S. 135. ↩
- Lemberg, Margret: Gräfin Luise Bose und das Schicksal ihrer Stiftungen und Vermächtnisse, Marburg 1998. ↩
- Ahnert, Arthur: Hauptkatalog der Gemälde im Besitz der Stadt Kassel 1904–1913, Manuskript, Museumslandschaft Hessen Kassel, Archiv der Staatlichen Kunstsammlungen. ↩
- Heidelbach, Paul: Die neue städtische Galerie in Kassel, in: Hessenland. Zeitschrift für hessische Geschichte, Volks- und Heimatkunde 35, 1921, S. 97-99. ↩
- Stadtverkehrsamt Kassel (Hg.): Führer Kassel Wilhelmshöhe, Kassel (ca. 1930), S. 44; Das Bild wurde nach 1933 als „entartet“ aus der Sammlung entfernt und befindet sich heute in Privatbesitz. ↩
- Kramm, Helmut: Die städtische Galerie Kassel und ihre Neuordnung, in: Hessenland. Zeitschrift für hessische Geschichte, Volks- und Heimatkunde 48, 1937, S. 144-149. ↩
- Fricke, August (Hg.): Meisterwerke des XIX. und XX. Jahrhunderts aus der Städtischen Galerie Kassel, Kassel 1947. ↩