Die landgräfliche Kunst- und Naturalienkammer vor 1779

Vor dem Museum

 

Ausgehend von kirchlichen und weltlichen Schatzkammern sowie italienischen Gelehrtensammlungen, entwickelte sich in der europäischen Renaissance, mit dem humanistischen Bildungsgedanken im Rücken, der systematische Sammlungsraum der Kunst- und Wunderkammer. Als Begründer der Kasseler Kunstkammer gilt Landgraf Wilhelm IV., „der Weise“ (1532–1592). Als gebildeter Fürst der Renaissance pflegte er neben dem Auf- und Ausbau der Kunstkammersammlung eine persönliche Begeisterung für die Astronomie.

 

Mit dem humanistischen Streben, die Welt universalistisch zu erfassen, vollzog sich eine Wandlung innerhalb der Sammlungen, die enzyklopädische Charakteristika annahmen. Dieser Weg führte von der „geistlichen Schatzkammer der Kirche“ zur „weltlichen Schatzkammer der Fürsten“.1 In den fürstlichen Sammlungen der Frühen Neuzeit verschob sich der Sammlungsschwerpunkt zugunsten der Welterkenntnis. Die Objekte oblagen einer Neubewertung, ihre Position im weltlichen Gesamtgefüge wurde neu ausgelotet und stand damit im Vordergrund.

 

Gleichzeitig entwickelte sich in Italien seit Mitte des 15. Jahrhunderts ein analoges Gesamtkonzept der Wissenspräsentation und -aufbewahrung, das Studiolo. Das vorher schlichte Studienzimmer eines Gelehrten wurde mittels Schränken, Ablagen, aufwendigen Vertäfelungen und Malereien zu einem Mikrokosmos umgestaltet, in dem nicht mehr nur antike Literatur studiert, sondern auch an Objekten aus anderen Wissenschaftsbereichen geforscht werden konnte.

 

Caspar von Borcht (?), Porträt Landgraf Wilhelm IV. von Hessen-Kassel mit astronomischen Instrumenten vor seiner Sternwarte, Öl auf Leinwand 1577, Museumslandschaft Hessen-Kassel (Astronomisch-Physikalisches Kabinett).<br>Quelle: Mackensen, Ludolf von (Hg.): Die erste Sternwarte Europas mit ihren Instrumenten und Uhren. 400 Jahre Jost Bürgi in Kassel, 2. Aufl., München 1979, S. 18.

Caspar von Borcht (?), Porträt Landgraf Wilhelm IV. von Hessen-Kassel mit astronomischen Instrumenten vor seiner Sternwarte, Öl auf Leinwand 1577, Museumslandschaft Hessen-Kassel (Astronomisch-Physikalisches Kabinett).

Mit welcher Leidenschaft und Ernsthaftigkeit Landgraf Wilhelm IV. in Kassel seinem Interesse an der Astronomie nachging, wird an verschiedenen Indikatoren deutlich: Neben der Anstellung diverser renommierter Wissenschaftler am Hofe, u.a. dem Schweizer Uhrmacher Jost Bürgi als Hofastronom, gründete Wilhelm IV. 1560 die erste festeingerichtete Sternenwarte Europas mit einem zeitlichen Vorsprung von über 100 Jahren gegenüber ähnlichen Institutionen in Paris (1667) und Greenwich (1675).2 Zusätzlich beauftragte er Handwerker mit der Anfertigung physikalisch-technischer Geräte, die nicht nur als Sammlungsobjekte die Kunstkammer erweiterten, sondern im Kasseler Observatorium auch genutzt wurden. Wilhelm IV. selbst unternahm mit dem Gebrauch dieser Instrumente die Erstellung eines Kataloges, in dem er die vermessenen Positionen von über 400 Sternen sammelte.3 Diese eigene Forschungstätigkeit innerhalb der Kunst- und Wunderkammer scheint Wilhelm IV. von anderen fürstlichen Zeitgenossen abzuheben, die zwar häufig im Drechseln handwerklich tätig wurden, für die ein wissenschaftliches Arbeiten in ihren Sammlungen jedoch selten nachzuweisen ist.

Bei fürstlichen Kunst- und Wunderkammern drängt sich die Frage nach dem Verhältnis von Repräsentationsbedürfnis und Forschungsdrang auf. Besucherbücher großer Sammlungen wie Schloss Ambras bei Innsbruck, gegründet 1560 von Erzherzog Ferdinand II. von Tirol, verdeutlichen ihre hohe Anziehungskraft auf zeitgenössische Persönlichkeiten.4 Die Besitzer solcher Sammlungen waren von Staatsgeschäften oft so stark in Beschlag genommen, dass sie selbst die Bestände kaum zu einer intensiven Auseinandersetzung nutzen konnten. Fürstliche Forscher, die tatsächlich mit ihrer Sammlung arbeiteten, wie Wilhelm IV. von Hessen-Kassel, erscheinen dagegen bisher als Einzelfälle. Auch wenn die Höfe Wissenschaftler beschäftigten, um ihre Sammlungen erweitern, systematisieren und katalogisieren zu lassen, bleibt die Frage nach der wesentlichen Motivation des Besitzers häufig offen.

 

Jost Bürgi und Anton Eisenhoit, Automatischer Himmelsglobus „Kassel II“, um oder kurz nach 1592, Museumslandschaft Hessen-Kassel (Astronomisch-Physikalisches Kabinett). <br>Quelle: Mackensen, Ludolf von (Hg.): Die erste Sternwarte Europas mit ihren Instrumenten und Uhren. 400 Jahre Jost Bürgi in Kassel, 2. Aufl., München 1979, S. 37.

Jost Bürgi und Anton Eisenhoit, Automatischer Himmelsglobus „Kassel II“, um oder kurz nach 1592, Museumslandschaft Hessen-Kassel (Astronomisch-Physikalisches Kabinett).

In den Kunst- und Wunderkammern Europas etablierte sich eine Klassifizierung der Sammlungsobjekte in Naturalia (Objekte der Natur), Mirabilia (Wunderlichkeiten), Artefacta (Kunsthandwerk), Scientifica (wissenschaftliche Instrumente), Antiques (antike Gegenstände) und Exotica (außereuropäische Objekte). Nicht nur durch diese Einteilung, sondern auch durch territoriale und temporale Ordnungen innerhalb des Aufbewahrungsmobiliars, sollte dem Betrachter die vollständige Darstellung aller Wissensbereiche zugänglich und das Erkennen übergeordneter Zusammenhänge möglich gemacht werden.

 

Dabei ist anzumerken, dass die Besucherpolitik in europäischen Kunst- und Wunderkammern streng reglementiert wurde. Der Zugang war im Allgemeinen einem auserwählten Publikum vorbehalten, dem nach vorheriger Anmeldung entweder vom Besitzer selbst oder aber von seinem Personal die entsprechenden Objekte präsentiert wurden. Die spezifischen Zugangsbedingungen der Kasseler Kunstkammer sind vor den erhaltenen Besucherbüchern des 18. Jahrhunderts allerdings nicht überliefert.5

 

Anonym, Die Sammlung des Francesco Calzolari in Verona, Kupferstich (aus: B. Ceruti und A. Chiocco: „MUSAEUM FRANC. CALCEOLARI [...]“, Verona 1622). <br>Quelle: Seipel, Wilfried (Hg.): Die Entdeckung der Natur. Naturalien in den Kunstkammern des 16. und 17. Jahrhunderts, Ausst.- Kat., Wien 2006, S. 27.

Anonym, Die Sammlung des Francesco Calzolari in Verona, Kupferstich (aus: B. Ceruti und A. Chiocco: „MUSAEUM FRANC. CALCEOLARI […]“, Verona 1622).

In Kassel führte nach dem Tod Landgraf Wilhelm IV. sein Sohn und Nachfolger Moritz, „der Gelehrte“ (1572–1632), den Plan für den Bau eines neuen Marstalls am Stadtschloss an der Fulda fort. In den Stallungen wurden, über dem Platz für Pferde, Kutschen und Geschirr, im Obergeschoss Räume für die Kunstkammer eingerichtet, die dort 1593 einzog. Ob der Ortswechsel programmatischer oder pragmatischer Natur war, lässt sich bisher nicht nachweisen. Belegbar ist jedoch, dass der neue Landgraf sich vor allem in den Bereichen Musik und Literatur engagierte. Zwischen 1603 und 1606 ließ er in der Nähe seines Stadtschlosses das sogenannte „Ottoneum“ als erstes feststehendes Theatergebäude errichten.6

 

Stephan Kipfenberger, Nautilusschale mit freigelegter Perlmuttschicht, um 1530 (bereits 1559 im Inventar der Silberkammer des Landgrafen Philipp von Hessen), Museumslandschaft Hessen-Kassel (Hessisches Landesmuseum). <br>Quelle: Schmidberger, Ekkehard; Richter, Thomas: SchatzKunst 800–1800. Kunsthandwerk und Plastik der Staatlichen Museen Kassel im Hessischen Landesmuseum Kassel, Kassel/Wolfratshausen 2001, Nr. 31.

Stephan Kipfenberger, Nautilusschale mit freigelegter Perlmuttschicht, um 1530 (bereits 1559 im Inventar der Silberkammer des Landgrafen Philipp von Hessen), Museumslandschaft Hessen-Kassel (Hessisches Landesmuseum).

Dorthin wurden fast ein Jahrhundert später unter Landgraf Karl (1654–1730) die fürstliche Sammlung und die Sternwarte verlegt, nachdem das Gebäude in „Kunsthaus“ umbenannt worden war. Unter Karls Regentschaft entstand 1697 durch Johann-Just Winkelmann das erste ausführliche Inventar der landgräflichen Kunst- und Naturalienkammer, dass eine Zusammenstellung von Objekten beschreibt, die anderen zeitgenössischen Sammlungen in Nichts nachstand.7

 

Ebenfalls von Karl gegründet, entstand ab 1709 das Collegium Carolinum. Den Studenten und Professoren dieser Hochschule wurde mit dem Zugang zur Kunstkammer die Auseinandersetzung mit Forschungsobjekten ermöglicht.8 In Kassel entstand ein Austausch auf wissenschaftlicher Ebene, der bereits die Grundstruktur eines Bildungsnetzwerkes aufzeigt.

 

Die Besucherpolitik des „Kunsthauses“, jedem Interessierten nach vorheriger Anmeldung Eintritt zu gewähren, wurde nach 1779 mit der erneuten Verlegung der Kunstkammer unter Landgraf Friedrich II. (1720–1785) in das neu erbaute Museum Fridericianum noch einmal erweitert. Festgesetzte Öffnungszeiten erlaubten nun auch den unangemeldeten Zugang zur Sammlung. Es vollzieht sich ein „Wandel von der fürstlichen Kunstkammer hin zum modernen Museum als einer öffentlichen Bildungseinrichtung.“9

 

Im 19. Jahrhundert zerfällt der universalistische Bildungsanspruch der Kunst- und Wunderkammern mit der fortschreitenden Veränderung der Wissenschaften und ihrer Ordnungssysteme. Ab 1877 werden auch in Kassel die Objekte der landgräflichen Sammlung verstreut: Das in diesem Jahr als Naturkundemuseum eingerichtete „Ottoneum“ nimmt die Naturalia auf, Skulpturen und Kunsthandwerk wandern 1913 in das Hessische Landesmuseum, astronomische Geräte bilden dort zunächst noch integriert das astronomisch-physikalische Kabinett, das sich heute in der Orangerie in der Karlsaue verselbständigt hat.10

 

Die Kasseler Kunstkammer ist durch ihre enzyklopädische Verbindung von Kunst und Wissenschaft ein repräsentatives Beispiel für eine universal ausgerichtete Sammlung der europäischen Renaissance, die sich jedoch durch die ausgeprägten persönlichen Interessen ihrer fürstlichen Sammler von anderen vergleichbaren Sammlungen abhebt.

 

Linda Knop (mit Jennifer Jokiel, Annika Maus, Pia Timaeus)

Literaturverzeichnis


 

  1. Schlosser, Julius von: Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance, Braunschweig 1978, S. 22.
  2. Mackensen, Ludolf von (Hg.): Die erste Sternwarte Europas mit ihren Instrumenten und Uhren. 400 Jahre Jost Bürgi in Kassel, München 1979, S. 9.
  3. Heppe, Dorothea: Das Schloß der Landgrafen von Hessen in Kassel von 1557 bis 1811, Marburg 1995, S. 101.
  4. Mackensen, Ludolf von: Die naturwissenschaftlich-technische Sammlung. Geschichte, Bedeutung und Ausstellung in der Kasseler Orangerie, Kassel 1991, S. 7-8.
  5. Vgl. Linnebach, Andrea: Das Besucherbuch von Kunsthaus und Museum Friedricianum in Kassel, 1769–1796. „Mr Chaplin de Londres a vu avec le plus grand plaisir“, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 114, 2009, S. 161-176.
  6. Dreier, Franz-Adrian: Zur Geschichte der Kasseler Kunstkammer, Melsungen 1961, S. 8 (S. 128).
  7. Link, Eva: Die landgräfliche Kunstkammer Kassel, Kassel 1974, S. 24-25.
  8. Museumslandschaft Hessen Kassel (Hg): Optica. Optische Instrumente am Hof der Landgrafen von Hessen-Kassel, Petersberg 2011, S. 15 ff.; vgl. auch Dreier, S. 17-18 (S. 137-138).
  9. Linnebach, S. 163-164.
  10. Dreier, S. 20-21 (S. 140-141); Link, S. 32-33.