Vorbilder für Handwerk und Gewerbe
Durch die zunehmende Industrialisierung im 19. Jahrhundert und die aufkommende Massenproduktion war es möglich, anspruchsvolles Kunstgewerbe, das bisher nur für eine privilegierte Schicht erschwinglich gewesen war, einer breiten Käuferschaft zugänglich zu machen. Dies hatte jedoch den Nachteil, dass dabei die Qualität der Produkte abnahm. Diesem Problem sollte mit gezielter Gewerbeförderung zur Qualitätsverbesserung der lokalen Wirtschaft entgegengewirkt werden. So entstand Mitte des 19. Jahrhunderts das Kunstgewerbemuseum als ein neuer Museumstypus.
Kunstgewerbemuseen hatten nicht nur das Ziel, künstlerisch gestaltete, aber für den Gebrauch geeignete Exponate zu sammeln und zu konservieren, sondern auch aktiv in das Geschehen von Handwerk und Industrie einzugreifen. Dadurch wuchsen dem neuen Museumstyp Aufgaben zu, die traditionelle Kunstmuseen bisher nicht für erforderlich erachtet hatten. So richteten Kunstgewerbemuseen in der Regel Lehrabteilungen wie Werkstätten und Ateliers für den Zeichenunterricht ein und veranstalteten eine Vielzahl von didaktischen Bildungsprogrammen. Aus den Vorbildersammlungen verliehen sie bestimmte Teile ihres Sammlungsinventars und Reproduktionen aller Art und veranstalteten zusätzlich Ausstellungen mit fremden Leihgaben. Sie unterhielten Forschungsabteilungen mit Bibliotheken, Laboratorien und technischen Prüfstationen und sie boten unmittelbare Unterstützung für die Wirtschaft mit Auskunftsstellen für technische, wirtschaftliche und künstlerische Fragen sowie Adressen- und Patentsammlungen.1

Ansicht der „Gewerbe-Halle Kassel“ vom Friedrich-Wilhelms-Platz (heute Scheidemann-Platz), historische Postkarte um 1900.
Alle diese Aktivitäten sollten der Ausbildung eines ästhetischen Urteilsvermögens durch die Produzenten dienen und ihnen ein neues Gefühl für Form und Schönheit vermitteln. Man erwartete sich durch die Herstellung von qualitätsvolleren Produkten zugleich eine Absatzsteigerung der heimischen Betriebe gegenüber der bisher in dieser Hinsicht als überlegen geltenden ausländischen Konkurrenz. Auch in Kassel gründete sich deshalb ein „Handels- und Gewerbeverein“ im Jahre 1855 mit dem Ziel, die regionale Wirtschaft in Kassel und seiner Region zu fördern. Schon 1857 begann dieser Verein, Muster, Modelle und andere geeignete Rohstoffe und Erzeugnisse anzuschaffen und legte damit als eine der ersten Initiativen dieser Art in Deutschland, noch vor Berlin, den Grundstock für eine Muster- und Vorbildersammlung.2
Die Sammlung sollte im Lauf der Zeit immer weiter ausgebaut und in einem eigenen Gebäude untergebracht werden. Lange Zeit fehlten dafür jedoch die Mittel, bis die „Gewerbe-Halle Kassel“ 1872 schließlich in einem Neubau am damaligen Friedrich-Wilhelms-Platz, dem heutigen Scheidemannplatz, eröffnet werden konnte. Auf drei Etagen fand man dort eine Bibliothek, eine Patentsammlung, Ausstellungsräume und andere Anlaufstellen sowie die „Gewerbliche Zeichen- und Kunstgewerbeschule“. Der Zweck und die Ziele der „Gewerbe-Halle“ wurden in einem Statut festgelegt:

Richard Lucae, Entwurf für eine Wand mit Kunstgewerbe-Schauschränken in der Villa der Fabrikantenfamilie Henschel in Kassel, Handzeichnung 1868.
„§ 1. Die Gewerbehalle ist eine vom Handels- und Gewerbeverein daselbst mit staatlicher Unterstützung begründete und unterhaltene Einrichtung zur Hebung und Förderung des Gewerbes insbesondere des Kleingewerbes im Regierungsbezirk Cassel. §2. Die Gewerbehalle versucht ihre Aufgaben zu lösen: (1) durch Ankauf und dauernde Ausstellung kunstgewerblicher, für das hessische Gewerbe vorbildlicher Erzeugnisse alter und neuer Zeit; (2) durch Veranstaltung oder Förderung von vorübergehenden Ausstellungen gewerblicher Erzeugnisse, von Maschinen, Werkzeugen, Modellen, Roh- und Hilfsstoffen; (3) durch Anschaffung, Ausstellung und Ausleihung von Vorlagen und sonstigen praktischen Lehr- und Bildungsmitteln; (4) durch Preisausschreiben und sonst geeignete, dem jeweiligen Bedürfnisse entsprechende Maßnahmen.“3

Einband nach Entwurf von Eduard Schick für den offiziellen Katalog der „Jubiläums Gewerbe Ausstellung Cassel, Juli – August 1905“, Kassel 1905.
1895 wurde erstmals ein Katalog für die kunstgewerbliche Vorbildersammlung verfasst.4 Die Sammlung, damals ein Bestand von 1512 Nummern, enthielt u.a. Arbeiten aus Holz, Eisen, Bronze, Zinn oder Email sowie Tauschierarbeiten, Textilien, Kunstdrucke und Papierwaren. Spätestens um die Jahrhundertwende wurde das Gebäude mit dem Anwachsen der Sammlung und der Bibliothek für eine adäquate Präsentation zu klein. 1905 veranstaltete der Trägerverein aus Anlass seines 50-jährigen Bestehens eine „Jubiläums-Gewerbeausstellung“ in der Parkanlage Karlsaue.5 Durch die gut besuchte Ausstellung konnte der Verein einen Gewinn in Höhe von ca. 85.000 Reichsmark erzielen. Davon sollten 75.000 Mark dem Neubau einer größeren „Gewerbe-Halle“ dienen.
Gleichzeitig wurde aber auch die Absicht eines Neubaus für das neue Hessische Landesmuseum in Kassel diskutiert. Der Verein entschloss sich schließlich, auf einen eigenen Neubau zu verzichten und die private „Gewerbehalle“ in das staatliche Museumsprojekt zu integrieren. Im Gegenzug zu seinem Beitrag von 75.000 Mark zu den Baukosten wurde der Sammlungsbestand der Gewerbehalle in die Sammlung des Landesmuseums übernommen. Zudem bekam der Verein freigehaltene Räume im Erdgeschoss zugewiesen, die er für wechselnde Ausstellungen nutzen konnte, und es wurde ein von ihm gebrauchter Vortragssaal eingeplant.6
![„Gewerbe-Halle“ Erdgeschoß des Hessischen Landesmuseums mit Ausstellungsfläche der „Gewerbe-Halle“ rechts und Vortragssaal links (aus: Johannes Boehlau: „Führer durch die historischen und Kunstsammlungen […] Hessisches Landesmuseum zu Cassel“, Marburg 1913).<br>Quelle: Boehlau, Johannes: Führer durch die historischen und Kunstsammlungen [...] Hessisches Landesmuseum zu Cassel, Marburg 1913, Vorsatzblatt.](http://www.museumsgeschichte.uni-kassel.de/wordpress/wp-content/uploads/2013/07/08_Abb_4-300x234.jpg)
Erdgeschoß des Hessischen Landesmuseums mit Ausstellungsfläche der „Gewerbe-Halle“ rechts und Vortragssaal links (aus: Johannes Boehlau: „Führer durch die historischen und Kunstsammlungen […] Hessisches Landesmuseum zu Cassel“, Marburg 1913).
So wurden zwei unabhängig voneinander konzipierte Institutionen unter einem Dach vereint. Obwohl beide, der kunstgewerbliche wie der kulturhistorische Museumstyp, Gebrauchskunst und Alltagsgegenstände präsentierten, zeigten sie ihre Exponate doch unter sehr unterschiedlichen Aspekten. Während die „Gewerbe-Halle“ den Gewerbetreibenden und den Konsumenten seiner Produkte ästhetisch erziehen wollte, stellte das neue Landesmuseum den historischen Regionalbezug in den Vordergrund und schloss moderne und rein technische Exponate vollständig aus. Das kulturhistorische Prinzip verlangte, dass die Objekte in chronologischer Folge stilgeschichtliche und funktionale Zusammenhänge veranschaulichten, während Kunstgewerbesammlungen nach Materialgruppen sortiert waren, um den verschiedenen Handwerkszweigen entgegen zu kommen. Beide Museumstypen hatten aber ein weitgehend gemeinsames Zielpublikum vom etablierten Bürgertum bis in den neuen Mittelstand der Angestellten und Facharbeiter.
Auf welche Weise beide Sammlungsprinzipien im gemeinsamen Haus miteinander koexistierten, ist bisher noch nicht untersucht. Nach 1913 wird im Landesmuseum ohne Unterscheidung von der eigenen Sammlung gesprochen. Es bedarf noch der Nachforschung, welche der dort ausgestellten Gegenstände weiterhin der Gewerbe-Halle zuzuordnen waren. Im Zuge des 2. Weltkriegs löste sich der „Handels- und Gewerbeverein“ auf und die Sammlung des Landesmuseums, in der auch die Objekte der Gewerbehalle zu vermuten wären, wurde ausgelagert und ging teilweise verloren.7
Theresa Büchner, Saskia Meier
- Mundt, Barbara: Die deutschen Kunstgewerbemuseen, München 1972, S. 11. ↩
- Mundt 1972, S. 245 ging irrtümlich von einem Beginn der Sammlungstätigkeit 1855 aus; vgl. aber Bericht des Handels- und Gewerbevereins zu Cassel (…), Kassel 1891, S. 6-11. ↩
- Bericht des Handels- und Gewerbevereins zu Cassel (…), Kassel 1910, S. 155. ↩
- Leibrock, August (Hg.): Katalog der kunstgewerblichen Sammlung der Gewerbehalle in Kassel, Kassel 1895. ↩
- Jubiläums Gewerbe Ausstellung Cassel, Juli – August 1905. Offizieller Katalog, Kassel 1905. ↩
- Wegner, Erika: Der Anteil der Gewerbehalle Kassel an Bau und Einrichtung des Hessischen Landesmuseums, in: Hessische Heimat. Zeitschrift für Kunst, Kultur und Denkmalpflege 37, 1987, S. 142-149. ↩
- Kirchvogel, Paul Adolf: Die Jahre 1935–1945 im Hessischen Landesmuseum, in: Beeh, Wolfgang; Lehmann, Jürgen M. (Hg.): 75 Jahre Hessisches Landesmuseum 1913–1988, Darmstadt 1988, S. 129-131. ↩