Bildungsanspruch der Aufklärung

Johann Heinrich Tischbein d. Ä., Die Einweihung des Denkmals für Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel vor dem Museum Fridericianum im Jahre 1783, Öl auf Leinwand ca. 1783-89, Museumslandschaft Hessen-Kassel (Gemäldegalerie Alte Meister).
Aufklärung, das bedeutet nach der berühmten Definition des Philosophen Immanuel Kant vor allem, dem Grundsatz „Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen“ zu folgen und die „selbstverschuldete Unmündigkeit“ des ungebildeten Menschen in Selbstbestimmung umzukehren.1 Für den aufgeklärten absolutistischen Herrscher, als der sich Friedrich II. verstand, bedeutete dies jedoch zunächst, seinen Untertanen den Zugang zu Bildung zu erleichtern, um sie dadurch zu vernünftig handelnden Menschen zu erziehen, wobei dieser Prozess autoritär ‚von oben herab‘ in Gang gesetzt werden musste.
Während seiner ersten Regierungsjahre formulierte der Landgraf mit den „Pensées diverses sur les princes“ („Verschiedene Gedanken über die Fürsten“) ein Programm, in dem er Richtlinien für eine aufgeklärte Herrschaft entwarf.2 Diese Leitgedanken sind in seiner anschließenden Politik wiederzufinden: Friedrich II. reformierte die bereits bestehende Hochschule des Collegium Carolinum, er gründete das neue Krankenhaus der Kasseler Charité und die Société des Antiquités („Gesellschaft für Altertümer“), die als Ausdruck einer zeittypischen, nicht zuletzt durch Johann Joachim Winkelmann (1717–1768) ausgelösten Antikenbegeisterung verstanden werden kann.
Der Bau des Museum Fridericianum war zugleich Teil der städtebaulichen Neuordnung Kassels nach seiner Zerstörung während des Siebenjährigen Krieges und dem Beschluss, auf die nutzlos gewordenen älteren Befestigungsanlagen zu verzichten. Dadurch wurde es möglich, den Stadtkern mit der Oberneustadt durch drei geometrisch angelegte neue Plätze zu verbinden. Als Standort für das Museum diente der größte und wichtigste dieser Anlagen, der längsrechteckige, zur Fuldaaue geöffnete Friedrichsplatz. Bei dem 1769–1779 durch den Hofarchitekten Simon Louis du Ry (1726–1799) errichteten Museumsgebäude handelt es sich um eine Dreiflügelanlage, die typologisch an den Schlossbau angelehnt ist. Die zum Platz gewandte Schauseite des Gebäudes ist durch großen architektonischen Aufwand ausgezeichnet, über beide Geschosse reichende Pilaster und einen Säulenportikus, das Motiv einer antiken Tempelfront, das den Eingang markiert. Allegorische Figuren der Wissenschaften auf der geschlossenen Attikazone über dem Giebel lassen den Charakter des Gebäudes als Stätte der Forschung erkennen.

Johann Carl Müller und Gotthelf Wilhelm Weise nach Simon Louis du Ry, Grundriß des Erdgeschosses des Museum Fridericianum, Kupferstich (aus: „Plans et vue perspective du Musée de Cassel“, Kassel 1784).
Zu dieser Gestaltung, der die großen englischen Landsitze des 18. Jahrhunderts im Stil des Neupalladianismus als Vorbild dienten, wurde der Architekt auf einer gemeinsamen Reise mit dem Landgrafen nach England inspiriert. Das Motiv des Säulenportikus war ursprünglich von dem italienischen Architekten Andrea Palladio (1508–1580) als Ausdrucksmittel für Macht in den italienischen Villenbau eingeführt und von dort in den englischen Schlossbau übernommen worden. Mit seiner Übertragung in den Museumsbau, für den das Museum Fridericianum das früheste Beispiel darstellt, wurde das Tempelmotiv einer Umdeutung unterzogen, da es nun für den hohen Bildungswert der neuen Institution stand. Der Verzicht auf ein darunter gestelltes Sockelgeschoss, wie im Schlossbau üblich, machte zudem die Zugänglichkeit der neuen Institution für die Öffentlichkeit sichtbar, da die Säulen auf dem Niveau des vorgelagerten Platzraumes stehen.
Nicht nur die architektonische Lösung, auch andere Elemente waren Aneignungen, die Friedrich II. oder seine Berater auf Reisen im Ausland gesehen und für Kassel übernommen hatten. Die rückseitige Integration des Zwehrenturms, einem Rest der mittelalterlichen Stadtbefestigung, als Sitz der Sternwarte in die Anlage sowie die Innenarchitektur der Bibliothek ist wahrscheinlich an das Istituto delle Scienze in Bologna, das die wissenschaftlichen Sammlungen der dortigen Universität enthält, angelehnt.3
Diese neuartigen Eigenschaften des Projektes stehen jedoch im Kontrast zu dem überkommenen Sammlungskonzept der Kunst- und Wunderkammer, das die enzyklopädische Präsentation im Inneren des Museums prägte. Mit dem Bau des Museums sollten die auf verschiedene Gebäude verteilten, heterogenen Bestände der älteren fürstlichen Sammlungen zusammengeführt und neu geordnet werden. Dabei lassen sich bestimmte Schwerpunkte ausmachen: die Bibliothek als Herzstück des Bildungsvorhabens, die Exponate der Kunst- und Wunderkammer von Friedrichs Vorfahren und die neu angelegte Antikensammlung. Ein paar antike Objekte hatte bereits Landgraf Karl (1654–1730) erworben, bedeutend wurde die Sammlung jedoch erst durch die Ankäufe Friedrich II. während und nach seiner Italienreise 1776/77. Eine umfangreiche Auswahl antiker Marmorstatuen und moderner Abgüsse nach berühmten, aber unerreichbaren antiken Skulpturen in römischen Sammlungen wurde didaktisch ergänzt durch die Korkmodelle antiker Bauten von Antonio Chichi (1743–1816) und das gesamte graphische Werk Giovanni Battista Piranesis (1720–1778) mit Ansichten Roms.
Ein für jeden zugängliches Museum in Kassel zu errichten war Friedrichs Idee. Im Sinne der Aufklärung sollten Besucher dort naturwissenschaftlich und historisch belehrt werden. Die Ausstellungsstücke waren mit Hinweisschildern versehen, so dass besondere Vorkenntnisse nicht vorausgesetzt wurden, ein gedruckter Katalog war zumindest geplant und zu Veranstaltungen wie Frühjahrs- und Herbstmessen, wenn mit größerem Publikumsandrang gerechnet werden konnte, wurden Führungen angeboten. In der Bibliothek waren bestimmte Plätze für Gelehrte reserviert, im übrigen aber war sie während der Öffnungszeiten für das Publikum benutzbar.

Der „Kasseler Apoll“, römische Kopie nach griechischem Vorbild des 5. Jh.s v. Chr., im Zustand vor seiner heutigen Entrestaurierung, Aufnahme der Aufstellung im sog. „Landgrafenmuseum“ ca. 1935-39.
Für die damalige Zeit war die Idee eines öffentlichen Museums ein Experiment, weshalb einige der gewählten Regelungen die Verwirklichung der allgemeinen Zugänglichkeit in der Praxis einschränkten. Das Gebäude war zunächst an vier Tagen in der Woche jeweils von neun bis zehn Uhr und von vierzehn bis fünfzehn Uhr geöffnet, wodurch das mögliche Publikum bereits limitiert wurde.4 Man erhob sowohl für den Museumsbereich als auch für die Bibliothek Eintrittsgeld in Höhe von zwei Gulden – einen Betrag, den sich nicht jeder leisten konnte.5 Darüber hinaus war saubere Kleidung vorgeschrieben.
Zwar entstand durch den allgemeinen und anmeldungsfreien Zugang ein wesentlich breiteres Museumspublikum, das bis weit ins Bürgertum hineinreichte, jedoch zeugen die erhaltenen Besucherbücher davon, dass Handwerker und Arbeiter selten unter den Besuchern zu finden waren.6 Häufige Nutzer des Museums waren neben den Schülern des Collegium Carolinum und den Studenten der Universität Göttingen vor allem Adelige, Angehörige des Militärs und hohe Beamte. Auch über die Grenzen der Region hinaus etablierte sich das Museum als ein beliebtes Ziel von internationalen Bildungsreisenden aus der intellektuellen Elite, wie sie Johann Wolfgang von Goethe als mehrfacher Besucher exemplarisch verkörpert.
Julia Allnoch, Sabine Köllner (mit Ann-Charlotte Günzel, Angelina Henning)
- Kant, Immanuel: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“; in: Berlinische Monatsschrift 4, 1784, H. 12, S. 481. ↩
- Wegner, Karl-Hermann: Landgraf Friedrich II. – ein Regent der Aufklärung; in: Peter Gercke (Hg.): Aufklärung und Klassizismus in Hessen-Kassel unter Landgraf Friedrich II. 1760–1785, Kassel 1979, S. 11. ↩
- Wegner, S. 19-20. ↩
- Kahlfuß, Hans-Jürgen: Die „große fürstliche Bibliothek zu Cassel“, in: Gercke, S. 148 mit Bezug auf eine Regelung von 1780. Die Überlieferung variiert, vgl. Linnebach, Andrea: Das Besucherbuch von Kunsthaus und Museum Friedricianum in Kassel, 1769–1796. „Mr Chaplin de Londres a vu avec le plus grand plaisir“, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 114, 2009, S. 163 (Anm. 9). ↩
- Vercamer, Julia: Das Museum Fridericianum in Kassel; in: Bénédicte Savoy (Hg.): Tempel der Kunst. Die Geburt des öffentlichen Museums in Deutschland 1701–1815, Mainz 2006, S. 323. ↩
- Linnebach, S. 166. ↩